Bäumlikari – Die Stufe

Mi, 24. Dez. 2025
Das Geigenspiel verhilft Bäumlikari zum Effort. (Bild: Pixabay)

Viele Jahrzehnte war es so, dass während der Sommerferien alle Buben im Dorf aufgerufen wurden, im Wald kleine Tannen zu pflanzen. Sie erhielten ein Sackgeld dafür. Karl meldete sich jedes Jahr, auch nachdem er die Schule verlassen hatte. Er pflanzte Tannen im Wald und fällte sie auch, und so blieb es sein Leben lang. Die Leute im Dorf konnten ihn rufen, wenn sie einen Baum zu fällen hatten, und irgendwann nannten alle ihn und auch seine Söhne Bäumlikari. Die Familie wohnte ganz oben im Dorf nahe am Waldrand. Sie war arm und hatte viele Kinder. Die meisten waren Buben.

Nun war der jüngste Bäumlikari in der vierten Klasse. Wie alle seine Brüder machte auch er jede Klasse zweimal. Bei Lehrer Schumacher in der vierten Klasse endete die Schulkarriere für alle Bäumlikaris. Weiter schaffte es keiner. Die dritte und vierte Klasse waren hart. Lehrer Schumacher nahm bei den Buben oft das Lineal und gab ihnen Tatzen, dass die Hand aufschwoll, die Bäumlikaris kassierten heftig. Sie kamen zu spät, weil der Vater am Morgen noch im Dusel lag und sie vor der Schule den Stall misten mussten. Lehrer Schumacher dachte, er wolle dem jüngsten Bäumlikari ein Amt auftragen, das ihn ansporne, rechtzeitig zur Schule zu kommen. Schumacher spielte jeden Morgen auf seiner Geige «All Morgen ist’s ganz frisch und neu», die Kinder sangen dazu. Er hängte seine Geige an einem Haken auf, der an der Unterseite des Tischblattes angeschraubt war. Er wählte jedes Jahr einen Schüler aus, der seinen Geigenkasten dort am Morgen hervorholte, auf den Tisch stellte und den Deckel öffnete, sodass er bequem seine Geige nehmen konnte. Beim jüngsten Bäumlikari musste der Lehrer alle seine Fähigkeiten zusammenraffen, aber er entschied sich dieses Jahr für ihn. Er war nun schon drei Jahre in seinem Unterricht und so traute er ihm dieses Amt zu.

Als Bäumlikari diese Aufgabe erhielt, erfüllte es ihn mit Stolz, er machte es gern. Es gab ihm auch eine leise Aufmunterung für den beginnenden Tag. Liebevoll legte er den Geigenkasten auf den Tisch und achtsam öffnete er den Deckel und schaute noch schnell das prächtige Instrument an. Berühren durfte er es nicht.

Jeweils am letzten Tag vor Weihnachten spielte Schumacher am Morgen «Oh du fröhliche, oh du selige Weihnachtszeit» und zwei andere Weihnachtslieder. Darauf freute sich Bäumlikari nun schon das dritte Mal. Bei ihm zu Hause wurde am Weihnachtsabend nicht gesungen, der Vater lallte, die Mutter suchte in der Küche alles zusammen, dass sie ein Abendessen zustande bringen konnte.

Am Morgen des letzten Schultages vor Weihnachten wollte Bäumlikari auf keinen Fall zu spät sein. In aller Eile warf er den zwei Kühen das Stroh hin, schüttete der Sau die Tränke über den Kopf und spurtete den Hang hinunter dem Schulhaus entgegen. Es klappte, er war nicht zu spät. Keuchend sass er in der Schulbank. Schumacher war noch im Gespräch mit dem Schulpflegepräsident, der jeweils vor den Weihnachtstagen kam und mit dem Lehrer besprach, wer im Frühjahr in die nächste Klasse komme und mit welchem Notendurchschnitt. Bäumlikari bangte, keinesfalls wollte er, dass der Lehrstoff der vierten Klasse nochmals in ihn hineingepaukt werden sollte. Ihm graute. Auf sein Gesicht legte sich etwas Fahles, Ältliches. Mit halb offenem Mund hörte er zu, wie Herr Bolliger die Namen der Schüler alphabetisch ablas. Bei M vorbei und bei Zuber angelangt, hielt er inne, blickte auf und suchte nach dem Bäumlikari und sagte: «Zum ersten Mal, seit ich Schulpflegepräsident bin, und ich bin es schon viele Jahre, kann ich sagen, dass einer der Bäumlikaris in die fünfte Klasse kommt, provisorisch.»

Bäumlikari erhob sich, ging nach vorne und streckte schon von Weitem dem Schulpflegepräsident die Hand entgegen. Vor lauter Glück hätte er fast vergessen, die Geige hervorzuholen. Als er an seinen Platz zurückging, war ein Strahlen in seinem Gesicht, und viele Schüler vergassen den Augenblick eines in dieser Stunde glücklichen Menschen nicht. Nun legte Schumacher das Kinn auf die Geige und fiedelte «Oh du fröhliche, oh du selige Weihnachtszeit». Laut sang die Schülerschar und für Bäumlikari war Weihnachten ganz nah an seinem Herzen.

Anna-Verena Hoffmann

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