Die 19-jährige Michelle Gloor holt an den Leichtathletik U23-Schweizermeisterschaften über 100 Meter die Silbermedaille. Die Gontenschwilerin befindet sich derzeit in einer ausgezeichneten Form und will sich auf den kurzen Strecken weiter verbessern.
Autor: Remo Conoci
Es sei für sie noch ungewohnt, dass sich die Öffentlichkeit für sie interessiere, sagt Michelle Gloor. Das Interview mit der frischgebackenen Silbermedaillengewinnerin findet denn auch nicht vor einer Sponsorenwand und im Blitzlichtgewitter statt, sondern auf einem Bänkli auf dem Spielplatz beim Primarschulhaus in Gontenschwil. «Hier hat alles angefangen», blickt die 19-Jährige zurück und lacht: «Beim ‹Fangis›-Spielen bin ich immer allen davongekommen». Bereits mit 5 Jahren gehörte die junge Michelle dem Reinacher Sportverein an, ehe sie sich beim STV Gontenschwil vorerst mit dem Turnsport befasste. «Gleichzeitig habe ich beim ‹schnellsten Gontenschwiler› und später in der Oberstufe beim ‹schnellsten Kulmer› jedes Mal gewonnen und schnell gemerkt, dass mir das Rennen mehr Freude bereitet als das Turnen. Bei einem Znacht habe ich das meiner Familie mitgeteilt und so trat ich 2014 dem BTV Aarau bei».
Sportliche Familie
Michelles Eltern hatten in jungen Jahren selber Berührungspunkte mit der Leichtathletik und auch ihr jüngerer Bruder war einmal Hürdensprinter im BTV Aarau. So konnte Michelle auf die Unterstützung ihrer Familie zählen. «Schon früh war für mich der Sport ein Ausgleich zur Schule, das hat sich bis heute nicht geändert». Mit 18 Jahren wurde Michelle Gloor ins Nationalkader aufgenommen, nachdem sie an der U20-Hallen-Schweizermeisterschaft im Februar 2018 überraschend die Goldmedaille über 60 Meter holte. «Man sagte mir nachher, dass man die Ansätze für einen Spitzenplatz erkannt habe, aber der Sieg hat dann doch alle überrascht». Wie schon auf dem Spielplatz der Primarschule Gontenschwil, rannte Michelle wieder allen davon. Inzwischen geht die 19-Jährige in die Sportkanti Aarau und setzt ihre sportliche Ausbildung beim Leichtathletik Club Zürich fort. «Meine Eltern», fügt sie an, «haben die eigene Leichtathletik-Karriere dann aber nicht mehr weiterverfolgt. Heute widmen sie sich dem ‹Spaziersport› mit dem Hund.» – wieder strahlt sie über das ganze Gesicht.
Steigende Formkurve
Bereits in der Woche vor den Schweizermeisterschaften in Frauenfeld lief Michelle Gloor an einem Meeting in La Chaux de Fonds mit 11,74 Sekunden ihre persönliche Bestzeit über 100 Meter. Mit dieser Leistung hätte sie in Frauenfeld sogar Gold geholt. «Ich bin eine gute Starterin, doch diesmal kam ich im Final nicht so gut weg», zeigt sich die 19-Jährige selbstkritisch. Cynthia Reinle – im Vorlauf noch hinter Michelle Gloor gelegen – holte schliesslich Gold. «Ich freue mich aber mehr über die Silbermedaille, als dass ich Gold nachweine». Sie richte ihren Blick ohnehin lieber nach vorne und da fehlt für den U23-Schweizer Rekord von Mujinga Kambundji (11,20 Sekunden) ja nicht mehr so viel. Jüngst etablierte sich eine andere junge Schweizerin als schnellste Europäerin. Die 24-jährige Ajla del Ponte schaffte die 100 Meter bei den Profis in 11,08 Sekunden. Wie viel Einfluss haben starke Mitläuferinnen auf die junge Gontenschwilerin? «Wir kennen einander natürlich und wir schauen, was die anderen so machen. Bei den Rennen und im Training hilft vor allem die gesunde Konkurrenzsituation, um selber ans Limit zu kommen. Wir sprechen aber nicht nur über Training und das richtige Essen, sondern über ganz gewöhnliche Frauen-Themen.»
Nicht nur der Sport zählt
Nächstes Jahr beginnt die Vize-Schweizermeisterin mit dem Studium der Rechtswissenschaften an der Uni Zürich. «Beim LC Zürich lässt sich das sehr gut mit dem Training kombinieren», sagt sie. Schon heute reist Michelle fünf Mal in der Woche per Zug in den Zürcher Letzigrund. «Nach der Schule sind das ab Aarau 40 Minuten. Zurück nach Gontenschwil weitere anderthalb Reisetunden», schildert die junge Frau den doch beträchtlichen Aufwand, den sie für den Sport betreibt. Das Training selber dauert dann noch einmal mindestens 90 Minuten. Für Familie und einen kleinen, feinen Freundeskreis reiche die Zeit aber schon auch. «Die ticken alle ähnlich wie ich, treiben auch Sport und wenn wir zwischen Trainings und Rennen gemeinsam Zeit finden, ist das Zusammensein um so besser.» Für Michelle Gloor ist aber auch klar: «Das ist mein Weg. Ich will mich in diesem Sport behaupten und mich der Weltelite weiter nähern». 64 Hundertstelsekunden fehlen ihr noch bis zur magischen Grenze von 11,10 Sekunden. «Wenn man diese Zeit schafft, gehört man vorne dazu. Im Moment habe ich umgerechnet also noch etwa 6 Meter Rückstand», strahlt die junge Frau. Geht der Zeitplan auf, hat sie das Studium mit Bachelor und Master in fünf Jahren geschafft, «dann bin ich 25 Jahre alt – man sagt, dann sei man auf dem Höhepunkt als Sprinterin.»
Teilnahme auch an der Elite-SM
Was danach ist, bleibt offen. Ehrgeizig, selbstbewusst, fröhlich, äusserst klug und aufmerksam ist Michelle Gloor und bringt damit die besten Werkzeuge mit, sich im Leben durchzusetzen. Mit ihrem erfrischend offenen Wesen erzählt sie von ihren Träumen und den sportlichen Zielen, die sie hat. Sie weiss aber auch: «Im Sport gibt es keine Erfolgsgarantie und im Moment bekomme ich mit Prämien vom LC Zürich und dank der Unterstützung meiner Eltern, einem Sporthilfe-Paten und Privatpersonen so viel, dass die Kosten ungefähr gedeckt sind. Für mich war immer klar, dass ich den schulischen Weg weiter gehe.» Ziele vor Augen zu haben, das sei ihr wichtig, unterstreicht die Gontenschwilerin und freut sich auf den nächsten grossen Anlass, die Elite Schweizermeisterschaft, die am 11./12. September in Basel stattfindet. Dort wird sie sich mit Mujinga Kambundji und Ajla del Ponte messen können, «wobei es bei der Teilnahme an einem Elite-Anlass für mich mehr darum geht, Erfahrungen zu sammeln. Wenn ich mit dem Finaleinzug unter die besten Acht komme, freue ich mich sehr».
Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht: Michelle Gloor ist aktuell die neuntschnellste Schweizerin – und wieder eilt sie fast allen davon, wie schon beim Fangis-Spielen auf dem Spielplatz der Primarschule Gontenschwil.
Leichtathletik, U23 Schweizermeisterschaft Frauen, kleine Allmend Frauenfeld.
100m Vorlauf (overall): 1. Michelle Gloor 11.97 – 2. Cynthia Reinle 12.01 – 3. Céline Bürgi 12.05. Final: 1. Cynthia Reinle 11.86 – 2. Michelle Gloor 11.99 – 3. Céline Bürgi 12.02.
200m Vorlauf (overall): 1. Cynthia Reinle 24.66 – 2. Michelle Gloor 24.72 – 3. Céline Bürgi 24.82. Final: 1. Céline Bürgi 24.32 – 2. Cynthia Reinle 24.51 – 3. Annik Kälin 24.64 – 4. Judith Goll 24.82 – 5. Michelle Gloor 24.83.
STECKBRIEF
Michelle Gloor
Wohnort: Gontenschwil
Geburtstag: 16. Oktober 2000
Grösse: 1,68 m
Gewicht: 60 kg
Schule: Sportkanti Aarau, ab 2021 Uni Zürich.
Aktueller Club: LC Zürich
Grösste Erfolge: Gold an der U20-SM 2018 (Halle, 60m); Silber an der U20-SM 2019 (Halle, 60m), Silber U23-SM 2020 (Outdoor, 100m), Aufnahme ins Nationalkader.
Andere Disziplinen: 200m Sprint, 4x100m Staffel.
Lieblingsessen: Thunfisch, Fleisch, Süsskartoffeln. «Ich kann auch dreimal das Gleiche hintereinander essen, es muss einfach gut riechen.»
Mag ich: Formel 1, Zeichnen und Malen. «Ich mag Geschwindigkeit, Ziele, philosophiere gerne und bin neugierig.»
Mag ich nicht: Tennis, «Leute, die nicht wissen, was sie wollen.»
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