Stimmen
Ich lade Sie ein zu einem Gedankenexperiment: Die Schweiz ohne Demokratie. Keine Abstimmungsunterlagen mehr im Briefkasten, keine Sonntagabende vor der Hochrechnungstafel, kein nervöses Zittern bei 49 zu 51 Prozent. Ein Land ohne Initiativen, ohne Referenden, ohne das nicht immer einfache Abwägen, das uns seit jeher prägt. Klingt absurd? Genau deshalb lohnt sich die Übung.
Die Schweiz ist nicht einfach ein Land mit Demokratie – sie ist Demokratie. Mindestens seit Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1848. Wir sind Weltmeister im Mitreden, Weltrekordhalter im Abstimmen, Dauerbewohner eines politischen Fitnessstudios, in dem jede und jeder gefordert ist. Die Demokratie ermöglicht uns mit verschiedenen Instrumenten den grösstmöglichen Einbezug von Minderheiten, eine entscheidende politische Eigenschaft in einem Land mit verschiedenen Sprachen und Kulturen. Würde man uns das nehmen, bliebe ein Rumpf zurück. Die Schweiz verkäme zum kopflosen Gebilde ohne Arme, ohne Beine und vor allem ohne Herz.
Politisch bedeutete es: Entscheidungen von oben. Keine Korrektur mehr durch den Souverän, keine Chance auf ein Veto. Föderalismus? Überflüssig. Wer oben sitzt, bestimmt, wer unten ist, hat zu spuren. Die bewährte Konkordanz würde kippen wie ein schlecht gebauter Jass-Tisch.
Gesellschaftlich? Wir, die gewohnt sind, selbst bei der Farbe der Kehrichtsäcke mitzureden, würden verstummen müssen. Kritik könnte gefährlich werden, Vielfalt unerwünscht. Was bleibt, ist ein Volk, das entweder stillschweigend gehorcht oder gefährlich gärt. Die sprichwörtliche Ruhe im Land würde schnell zur trügerischen Stille.
Und wirtschaftlich? Investoren schätzen die Schweiz nicht nur wegen der Berge, sondern wegen der Stabilität. Ohne Demokratie, ohne Rechtsstaatlichkeit – adieu Sicherheit. Aus einem globalen Vorbild würde eine Bananenrepublik.
Man könnte sagen: Das ist doch reine Fiktion. Ja, hoffentlich. Aber in Zeiten, in denen auch gefestigte Demokratien ins Wanken geraten, kann es nicht schaden, sich den Abgrund kurz vor Augen zu führen. Nur so bleibt klar, was auf dem Spiel steht.
Die Schweiz ohne Demokratie? Undenkbar. Aber gerade deshalb sollten wir die Demokratie nicht für selbstverständlich halten. Sie lebt nur, solange wir sie pflegen. Gelegenheiten dazu gibt es immer wieder: Am 15. September beispielsweise ist internationaler Tag der Demokratie. mit verschiedenen Aktionen und Veranstaltungen in Gemeinden, Schulen und Institutionen. Und am 28. September ist Abstimmungs- und in vielen Gemeinden und Kantonen Wahl-Sonntag. Nutzen Sie das Privileg und geben Sie Ihre Stimme ab!
Roland Marti
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