«Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt», schrieb Goethe in seinem «Faust». Beim Romance Scamming – dem hochprofessionellen Liebesbetrug im Internet – wird diese Weisheit zur existenziellen Falle. Wie eine eiskalte Industrie unsere Sprache kapert, um gierig nach dem letzten Rappen zu greifen und dabei Tausende von Seelen bricht.
Es sind Zahlen, die unter die Haut gehen. Allein in der Schweiz bewegt sich der Schaden durch «Romance Scamming» – wörtlich übersetzt Liebesbetrug – in mehrfacher zweistelliger Millionenhöhe. Doch hinter diesen Taten stehen keine Einzeltäter, sondern eine hochgerüstete Industrie, die mit der Präzision eines Konzerns agiert. Den Opfern bleibt am Ende oft nichts mehr. Ihr soziales Gefüge ist zerstört, Ersparnisse sind verschwunden und die psychischen Verletzungen machen ein Vertrauen in die Mitmenschen für die Zukunft nahezu unmöglich.
Der Kollateralschaden einer kalten Gesellschaft
Die Wurzel des Übels liegt in einer gesellschaftlichen Schwachstelle und der zunehmenden Vereinsamung unserer Gesellschaft. Bröckelnde familiäre Bindungen führen dazu, dass Isolation und ein sinkendes Selbstwertgefühl den Alltag vieler Alleinstehender belasten.
Wo Geld vermutet wird – übrigens eine der ersten Fragen der Betrüger –, wird schonungslos vorgegangen. Die verbreitete Meinung, dass Dummheit oder Naivität die Hauptgründe für das finanzielle und psychische Desaster seien, ist falsch. Mit psychologischen Tricks, drehbuchartigen Chatverläufen und KI werden die Opfer systematisch bearbeitet und mit Liebesbekundungen bombardiert oder mit Liebesentzug erpresst. Der Wunsch nach Gemeinschaft ist die Achillesferse unserer Gesellschaft und das Eintrittsticket für die Betrüger.
Liebesgrüsse aus dem KI-Server
Um genau zu verstehen, wie man in die Klauen der Romance Scammer rutschen kann, habe ich mich bewusst auf Scam-Chats eingelassen und versucht, die Muster darin zu erkennen. Über Wochen hinweg beobachtete ich das Geschehen oder nahm aktiv als fingiertes Opfer daran teil. Fazit: Als bewusste Beobachterin erkannte ich die Grenzen zwischen Realität und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Doch auch mir kamen zwischendurch Zweifel, ob das wirklich nur gespielt ist oder sich doch ein Mensch aus Fleisch und Blut dahinter versteckt. Als richtiges Opfer hätte man bereits verloren, wenn man das geschriebene Wort ins Herz lässt.
Chatverläufe dieser Art folgen einem perfiden Muster. Es beginnt mit einem harmlosen «Hi» im Messenger. Mein Gegenüber verliert keine Zeit. Sofort rollt er seine Lebensgeschichte aus: UNO-Friedensbeobachter im Jemen, stationiert in der Einsamkeit, Vater einer kleinen Tochter, die Frau und zwei Söhne bei einem Unfall verstorben. Es ist die klassische Legende, die Mitleid erzeugen und Vertrauen erzwingen soll.
Dann bin ich an der Reihe. Was ich mache, wie alt ich bin, wie ich aussehe. Harmloser Austausch auf den ersten Blick. Dann die erste Frage, die einen sofortigen Alarm auslösen sollte: «Wie viel verdienst du?» Nachdem ich mich als ältere Sachbearbeiterin im höheren Kader ausgegeben hatte, blieb ich vage. Für ein gutes Leben reiche es, antwortete ich sinngemäss. Das wollte mein Friedensbeobachter hören. Am nächsten Tag wurde ich mit Liebesbekundungen bombardiert. Dass ich ihm sagte, ich wäre in einer Beziehung, zeigte keine Wirkung. «Darf ich dein Bruder sein? Ich spüre eine Seelenverwandtschaft.» Zur Bekräftigung werden tausend Herzen hinterhergeschickt.
Die Liebesbotschaften waren sehr einseitig. Ehrlich gesagt wurde mir beinahe schlecht. «Wollen Frauen wirklich so erobert werden?», fragte ich mich. Wo ist der Austausch, die gemeinsamen Erfahrungen, das gemeinsame Lachen? Also fragte ich zurück: «Hei, bei uns regnet es, wie ist das Wetter im Jemen?» Ich wählte bewusst eine einfache Frage. Keine Antwort. Dafür jetzt jeden Morgen: «Guten Morgen, wie war deine Nacht?» Nicht, dass es ihn wirklich interessiert hätte. Ich konnte schreiben, was ich wollte, es kam keine wirkliche Reaktion. Mein Leben war ihm egal. Dies sollte im Grunde jedem auffallen, der in einen «Liebeschat» verwickelt ist. Dafür Lovebombing ohne Ende. Auch als «Schwester» wird man nicht verschont.
Dominique Rubin
Nach wenigen Tagen dann die unerwartete Frage: «Was machst du?». «Ich bin unterwegs», tippte ich sofort zurück. Ich war zu Hause und hatte keine Zeit, mich dem Scammer zu widmen. Die grosse Überraschung: «Ich vertraue dir, also lüge mich nicht an!» Ich fragte mich insgeheim, ob meine Bewegungen aufgezeichnet wurden. Aber vielleicht war das nur ein Schuss ins Blaue. Oft wiederholte er jedoch, wie wichtig ihm Aufrichtigkeit und Ehre seien. Beinahe wie eine Gehirnwäsche. Bei Opfern auf der Suche nach Zweisamkeit kann sich so das Bild eines integren Menschen zeichnen, obwohl er die Werte nur vorgibt, aber überhaupt nicht lebt.
Von da an blieb das Handy abgeschaltet. Der Ton wurde sofort wieder herzlicher und dann folgte die Bitte, die E-Mail-Adresse bekannt zu geben. Für mich wurde es damit Zeit, den Chat zu beenden. Wer jetzt denkt, den Scammer wäre man los, der irrt. Am nächsten Tag wird man erneut angefragt. Es wird schnell klar: So einfach entkommt man nicht.
Szenenwechsel zum zweiten Profil. Diesmal treffe ich auf einen Gentleman, angeblich in Basel aufgewachsen und nun in Bristol sesshaft. Sein Deutsch ist perfekt, seine Manieren tadellos. Was sofort auffällt, ist die Entwicklung der Gespräche in den wenigen Wochen seit Beginn meines Projekts. Er hat angebliche Verbindungen in die Schweiz und mir ist, als ob mein Umfeld medial ausspioniert wurde. Er gibt denselben Beruf wie den meines Mannes an. Sogar sein Profilbild weist Ähnlichkeiten auf.
Auch hier ist er ein armer Witwer mit kleiner Tochter. Diese altert im Laufe der Gespräche im Zeitraffertempo von zehn Jahren zur angehenden Studentin. Er will zurück in die Schweiz und bittet mich, Ausschau nach Liegenschaften zu halten. Dies tat bereits der Scammer im Chat vorher. Doch bei solchen Bitten ist Vorsicht geboten: In der heutigen Zeit ist es problemlos möglich, Häuser vom Ausland aus digital zu suchen. Solche Vorgehensweisen enden oft in dubiosen Vorausfinanzierungen. Unter dem Vorwand hoher Gebühren oder komplizierter Spesen wird dann versucht, Zahlungen über Mittelmänner abzuwickeln – eine klassische Falle.
Irgendwann springt auch er auf den Liebeszug auf und macht WhatsApp zur Voraussetzung für unsere «Beziehung». Die KI macht die Täuschung von Tag zu Tag perfekter. Bekommt man Zweifel an der Echtheit, macht man sich als Opfer oft selbst Vorwürfe, weil man glaubt, zu misstrauisch zu sein. Schliesslich verlangt das Gegenüber bedingungslose Wahrheit und Liebe. Einmal im Whats-App-Kanal gefangen, beginnt das Lovebombing ohne jede Atempause. Manche Opfer zahlen am Ende nur noch, um endlich in Ruhe gelassen zu werden.
Doch die Gier der Scammer kennt kein Ende. Die Zitrone wird bis zum letzten Tröpfchen ausgepresst.
Die Sehnsucht nach Nähe
Es gibt Opfer, die sich bewusst auf den Prozess einlassen. Der Grund ist tragisch. «Niemand wünschte mir gute Nacht», so ein Opfer, «aber der Scammer tat es. Also war ich ihm nicht egal.» Diese Sehnsucht nach Nähe ist verständlich, macht aber blind für die Realität. Am anderen Ende der digitalen Leitung sitzt oft kein Mensch, sondern eine Künstliche Intelligenz. Sie wertet Gespräche in Echtzeit aus, simuliert Empathie und schlägt dem Betrüger die nächsten taktischen Schritte vor. Es ist Technik, die gezielt gegen die menschliche Einsamkeit eingesetzt wird.
Ein weiteres bitteres Problem ist die Reaktion von Umfeld und Staat – die sogenannte sekundäre Viktimisierung. Zwar finden strafrechtliche Aufarbeitungen statt, doch für die Betroffenen bedeutet das oft keine Genugtuung. Im Gegenteil: Wenn Gerichte den Opfern wegen ignorierter Warnungen «Grobfahrlässigkeit» attestieren, fühlt sich das wie eine Täter-Opfer-Umkehr an.
Rosarote Brille
Dabei wird die biologische Falle oft unterschätzt. In der Phase der «rosaroten Brille» vernebelt ein körpereigener Hormon-Cocktail aus Dopamin und Oxytocin die Urteilsfähigkeit massiv. Rationales Handeln ist dann kaum noch möglich. Viele Opfer sind schwer traumatisiert und können ihren Alltag nur mit Psychopharmaka bewältigen. Scham- und Schuldgefühle machen zusätzlich das Leben zur Hölle. Ein gesellschaftliches «selber schuld» wirkt dann wie Öl in einer brennenden Wunde. Es trifft Menschen, die bereits alles verloren haben: Vermögen, ihre Würde und oft auch ihre Familie. Die Folge ist ein familiärer Scherbenhaufen, der noch mehr in die Einsamkeit führt.
Gerade die technische Komponente macht Romance Scamming heute so gefährlich. Anhand von Algorithmen erkennt die Betrüger-Industrie potenzielle Opfer und geht gezielt in die Offensive.
Ein Schicksalslauf, der nur durch gesellschaftliches Umdenken gestoppt werden kann. Ein wachsames Miteinander ist das stärkste Schutzschild, damit Betrüger, die das Wort zur Waffe machen, keine Macht mehr über die Einsamkeit erlangen können. Denn am Ende geht es um weit mehr als um verlorenes Geld – es geht um die Rettung unserer Mitmenschlichkeit. Solange ein KI-generiertes «Gute Nacht» das einzige Licht im dunklen Alltag einsamer Menschen ist, haben die Scammer leichtes Spiel. Wir müssen anfangen, einander wieder zuzuhören – bevor es ein Betrüger am anderen Ende der Welt für uns übernimmt.

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